«Es kann nun jederzeit wieder schneien»
2016 | Zwei Fotografien gerahmt, Audioaufnahme mit gesprochenem Tagebucheintrag, Holzsockel, Kopfhörer
«25. Februar 2016, Tempelhofer Feld, Berlin
In der Nacht von gestern auf heute hat es in Berlin geschneit.
So vieles ist in dieser Stadt geschehen. Geschichte ist allgegenwärtig. Sie ist sicht- und spürbar. Sie wird auf der Bühne, auf der Leinwand und an historischen Orten erlebbar.
Ich sah letztes Wochenende ein tief bewegendes Theaterstück im «Gorki-Theater». In «Common Ground» von Yael Ronen setzen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler mit ihren serbischen, albanischen, kroatischen, deutschen und jüdischen Identitäten vor dem Hintergrund des Jugoslawienkrieges auseinander. Heute leben sie alle in Deutschland. Ihre Eltern waren Opfer oder Täter. Das Stück berührte und bewegte mich sehr. Die angesprochenen Themen sind hochbrisant und schmerzlich aktuell.
Heute kam ich auf meiner fortdauernden Entdeckungsreise durch diese Stadt per Zufall zum Tempelhofer Feld.
Es ist Krieg in Syrien. Und andernorts.
Es ist die Zeit der grossen Flüchtlingsströme. Die Menschen strömen zu Hunderttausenden nach Europa.
Vor 2 Wochen war ich an der Premiere des diesjährigen Berlinale-Siegerfilms «Fuocoammare» von Gianfranco Rosi. Dieser Dokumentarfilm zeigt Emigranten, welche von Afrika nach Lampedusa zu gelangen versuchen. Es ist eine humanitäre Katastrophe.
In der Schweiz wird nächstes Wochenende über die «Durchsetzungsinitiative» der SVP abgestimmt.
Es werden in ganz Europa Zäune und Mauern an den Grenzen errichtet.
Rechtskonservative Politik ist im Aufschwung.
Wutbürger räumen der eigenen Angst und dem selbst aufgebauten Frust mehr Raum ein als ihrer Menschlichkeit, ihrem Mitgefühl und ihrer Vernunft. Irgendwie wird ständig übersehen, wie gut es uns vergleichsweise geht. Nirgendwo auf der Welt besitzen die Menschen soviel. Und trotzdem macht nur schon die Vorstellung, möglicherweise teilen zu müssen, unglaubliche Angst.
Trump gewinnt in den USA eine Vorwahl nach der anderen.
Während ich diese Gedanken aufschreibe, sitze ich im Café Engels in Neukölln. Das liegt gleich beim Tempelhofer Feld. Ich wärme mich bei Tee und Kuchen auf. Es ist sehr kalt. Die Finger werden beim Fotografieren schnell steif.
Vom Schnee der letzten Nacht sind einzig einige Pfützen und eine nasse Rollbahn übrig geblieben.
Das Wetter wechselt innert wenigen Minuten zwischen Sonnenschein und Weltuntergangsstimmung. Eine gewaltige Wolkenkulisse hat sich aufgebaut. Plötzlich reicht die Sicht nur wenige hundert Meter weit, dann sieht man wieder kilometerweit in die blendende Sonne.
Seit ein paar Jahren ist das Feld für die Bevölkerung offen und wird rege für Freizeitaktivitäten genutzt.
Was hier auf diesem ehemaligen Flughafen geschehen ist, wer die Bauherren dieses grössten Gebäudes Europas waren und wozu das alles gebaut wurde – das alles ist längst Geschichte. Ist «Schnee von Gestern». Und trotzdem fühlt es sich in der aktuellen geopolitischen Lage an, als läge eine düstere Stimmung in der Luft:
ES KANN NUN JEDERZEIT WIEDER SCHNEIEN.»